Die Aral-Tankstelle – Erfahrung einer erwachenden Erinnerung

In ihrer Ausgabe vom 23. Januar 2021 berichtete die Offenbach-Post vom Einkaufslädchen der Familie Pfeifer im Odenwaldring 2 in Dreieichenhain, dessen Standort im Laufe des Jahres 2021 wechseln soll. Am aktuellen Ladenstandort sollen Wohnbauten entstehen.

In dem Artikel wird beschrieben, dass Herr Pfeifer sich daran erinnere, dass vor ungefähr 30 Jahren an dem Ort eine Tankstelle geschlossen wurde und das Lädchen entstand. Im Juli 2007 habe er das Lädchen als Pächter übernommen.

In dem benachbarten Wohngebiet mit Odenwaldring und Philipp-Holzmann-Straße habe ich meine Kindheit verbracht, und erinnere mich an den Ort wie er früher war, so meine ich zumindest, so müsste ich zumindest. Ja, das mit der Tankstelle stimmt, ich bin sicher, aber nicht vor 30 Jahren. Vor 30 Jahren, Anfang 1991, hatte dort eine Familie Müller das Landgeschäft betrieben, die Vorgänger der Pfeifers, und das bereits schon 1988, als ich als Student in den Ferien Kinder von Freunden bei meinen Eltern zu Besuch hatte und wir dort einkaufen gingen.

Mein Bild der Tankstelle war das einer ungenutzten Immobilie, gebaut aber dann nicht eröffnet, und später teilweise wieder zurückgebaut. Wenn sie in Betrieb gewesen wäre, dann nur ganz kurze Zeit: Ich habe keine Erinnerung an den Betrieb der Tankstelle. Ein Telefonat mit meiner inzwischen in Norddeutschland lebenden Mutter ergab kein anderes Bild. Also: die Tankstelle wurde gebaut, aber wohl nie eröffnet.

Ich sah auf alten Luftaufnahmen von Dreieich nach: Im September 1966 keine Spur von einer Tankstelle. Aber erste Mauern meines Elternhauses, das sich zu diesem Zeitpunkt im Bau befand, sind zu sehen. Meine Eltern müssen auf dem Weg zur Baustelle an der Tankstelle vorbeigekommen sein, wenn denn dort eine war. Damals war die Philipp-Holzmann-Straße auf Höhe der Nahrgangstraße (früher Kantstraße) noch durch eine Schranke getrennt, wahrscheinlich damit die Baufahrzeuge für die Baustellen der neuen Wohngebiete in östlicher Philipp-Holzmann-Straße und Odenwaldring (damals Berliner Ring) nicht durch das Wohngebiet fuhren, das bereits in der westlichen („alten“) Philipp-Holzmann-Straße bestand. Mitte 1967 zogen meine Eltern mit mir und meinen drei Geschwistern in den Neubau in der Philipp-Holzmann-Straße ein.

War die Tankstelle eine kurze Zeit lang geöffnet? Weder meine Mutter noch ich konnten klar sagen: „Ja, wir erinnern uns an die Tankstelle wie sie in Betrieb war“. Wahrscheinlich wurde sie gebaut, hatte aber nie geöffnet. Warum nicht? Meine Mutter hatte die Erklärung, es muss wohl zwischenzeitlich damit gerechnet worden sein, dass nicht so viele Kunden kommen würden wie man ursprünglich gedacht hatte.

Da gab es doch in Bürgermeister Pfrommers Zeiten Pläne, eine Straße von Götzenhain durch das Hengstbachtal nach Sprendlingen zu bauen. Das hatte sie mir mal erzählt. Die „Hengstbachtalstraße“ wurde nie gebaut.

Anfang der 1970er Jahre wurde der Tunnel aus Linden an der Winkelsmühle gefällt. Einspurig ging dort eine kleine Straße hindurch, etwa so breit wie ein Feldweg, um die Kurve, und ich erinnere mich im VW Käfer meiner Mutter gesessen zu haben und beobachtet zu haben, wie sie darauf achten musste, dass die einspurige Strecke frei ist um hindurchzukommen. Auch vom Schulweg als Erstklässler zur Grundschule in Dreieichenhain kannte ich diesen Tunnel aus Bäumen, und war traurig, dass eines Tages Anfang oder Mitte der 1970er Jahre die Linden für eine breitere Fahrbahnkurve rund um die Winkelsmühle gefällt wurden. Später gab es „Ersatzpflanzungen“ auf dem Gelände der Winkelsmühle, auch wieder Linden, aber nicht so viele, nicht so große, und nicht als Tunnel.

Was sonst noch „übrig blieb“ von der „Hengstbachtalstraße“ war der Ausbau des Neurothwegs (muss um 1980 gewesen sein), der vorher auch nur etwa so groß wie ein Feldweg gewesen sein muss. Das Hengstbachtal aber blieb vom Straßenbau verschont, und der große Durchgangsverkehr kam nicht. War das nicht ein Grund anzunehmen, dass die Tankstelle nicht eröffnet wurde?

Ich wendete mich noch am Wochenende des Erscheinens des Artikels per e-mail an die Dreieich- Redaktion der Offenbach-Post und gab den Hinweis was meine Erinnerung an die Tankstelle angeht, angetrieben von der Gewissheit, dass diese vor 30 Jahren definitiv nicht (mehr) existierte. Zitat: „Liebe Redaktion der Offenbach-Post, in Ihrem Artikel vom 23.01.2021 über das Geschäft der Familie Pfeifer im Odenwaldring wird vermutet, dass das Gebäude bis vor etwa 30 Jahren eine Tankstelle beherbergte. Hierzu ein paar Informationen. Nach den Erinnerungen meiner Mutter und mir (unsere Familie lebte im angrenzenden Wohngebiet seit 1967) wurde an dem Ort Ende der 1960er Jahre mit dem Bau einer Tankstelle begonnen, diese aber nie eröffnet. Man ist wohl zwischenzeitlich zu dem Schluss gekommen, dass es nicht genügend Kunden geben würde. Das vielleicht auch vor dem Hintergrund, dass die Idee einer Hengstbachtalstraße irgendwann nicht mehr verfolgt wurde. Meiner Erinnerung nach stand das Gebäude in den 1970er Jahren leer, bis vermutlich irgendwann in den 1980er Jahren die Vorgänger von Familie Pfeifer, Familie Müller, dort einen kleinen Getränkemarkt und das beliebte Ladengeschäft eröffneten. Viele Grüße Stephan Heinsius

Auch in der Facebook Gruppe „Wir in Dreieich“ wurde der Artikel verbreitet und ich kommentierte ihn entsprechend. Rückmeldungen aus der Gruppe ergaben ein unterschiedliches Bild: Eine Erinnerung, dass die Tankstelle Mitte der 1980er Jahre nicht existierte, und eine Erinnerung dass dort Eis gekauft wurde. Ich fragte nach dem etwaigen Jahr. Antwort: 1973! 1973 wurde dort Eis gekauft - dann hätte die Tankstelle ja mehrere Jahre lang geöffnet gewesen sein müssen.

Weiteres Nachdenken. Doch: Ich erinnere, dass ein großer weißer Rohrmast oberhalb der Tankstelle an der Kurve stand, aber da war kein Tankstellenschild mehr drin. Was war da mal drin? Ja, es kann ein blaues Aral-Schild gewesen sein. Kann!? Ganz sicher bin ich mir nicht, aber wenn die Tankstelle geöffnet hatte, dann war es wohl Aral. Aber das Bild der Tankstelle in Betrieb erinnere ich nicht. Ich gebe diesen Stand in den Facebook-Thread.

Dann fragte ich Jemanden aus der damaligen Nachbarschaft. Er erinnerte selbst nicht die Tankstelle, fragte aber bei seinem Vater nach und dann kam die Bestätigung, dass dieser dort seinen Opel getankt und gewaschen hätte und er bestätigte Aral! Ich lasse mich gern „überstimmen“ in meiner Erinnerung, die geöffnete Tankstelle wurde zwei Mal bestätigt!

Am gleichen Tag, dem 26. Januar, wurde in der Offenbach-Post meine Rückmeldung auf den Artikel mit meiner Erinnerung veröffentlicht, mit dem Aufruf an die Leserschaft  weitere Hinweise zu geben. Die Redaktion ging der Sache nach: Eine Tankstelle die gebaut, aber nie eröffnet wurde - das fiel offensichtlich auf großes Interesse.

Ich kontaktiere meine beiden älteren Geschwister über WhatsApp. Auch meine Schwester bestätigt die Marke: Wir hätten früher von der „Aral Tankstelle“ gesprochen. Ja, das kann ich bestätigen.

Es fielen mir noch ein paar ehemalige Nachbarinnen ein, die ich telefonisch fragen konnte. Das erste der Telefonate noch am gleichen Abend ergab aber keine neuen Erkenntnisse.

Am nächsten Tag erhielt ich eine kurz gefasste e-mail von Herrn Mahn von der Offenbach-Post, der aus seinen Telefonaten mit der Leserschaft bestätigt: Es gab eine Tanke, d.h. die Tankstelle hatte geöffnet. Mein Bild verändert sich. Das Bild der leer stehenden Immobilie ist nicht alles, da ist mehr!

Tankstelle geöffnet: Dann muss es Zapfsäulen gegeben haben, und ein Dach darüber! Ich sehe sie vor mir: 2 oder 3 Zapfsäulen, zierlicher als sie heute sind, silbrig und mit runden Ecken. Darüber ein Dach das auf zwei Säulen steht, zwischen den Säulen die Zapfsäulen. Das Besondere an dem Dach: Es ist nach außen offen, zwei gerade Flächen nach innen abfallend, wie ein großer Flügel. Dach und Zapfsäulen auf einer schmalen Mittelinsel parallel zur Ladenfassade, direkt vor dem Laden. Bilde ich mir das ein? Kann das eine tatsächliche Erinnerung sein? Ich kann nicht bestätigen, dass es so war, kann nicht bestätigen, dass ich die Tankstelle so gesehen habe. Wie schön wäre es ein echtes Bild, ein Foto, der Tankstelle zu haben!

Eine Schulfreundin, die mit ihren Eltern 1973 in das Wohngebiet gezogen war, und die meine Aussage zur Tankstelle in der Zeitung gelesen hatte, meldete sich per e-mail und schrieb, sie sei sich sicher, dass dort eine Aral Tankstelle gewesen sei, sie habe aber kein Foto, das es ja vielleicht bei Aral gäbe.

Ich fragte per e-mail bei zwei weiteren Schulfreundinnen nach und telefonierte noch mit zwei ehemaligen Nachbarinnen: Eine bestätigt die geöffnete Tankstelle, die andere kann sich nicht erinnern. Eine der beiden Schulfreundinnen antwortete schnell und bestätige nach Rücksprache mit ihrem Bruder nicht nur die Tankstelle, sondern auch eine mögliche Verbindung zur Sprendlinger Aral-Tankstelle. Ich gebe meine neuen Informationen gerne gleich per e-mail an Herrn Mahn weiter.

Ein weiterer Tag vergeht. Am Nachmittag des 28. Januar ein Anruf: Die Zeitungsredaktion hat Neuigkeiten! Zahlreiche Anrufer haben die Tankstelle bestätigt, der Pächter ist gefunden, ein Kontakt hergestellt, und es gibt sogar Bilder! Ob ich gerade am PC sitze? Nein, bin gerade in einem anderen Raum. Ich unterbreche meine Essenspause und eile zwei Stockwerke nach oben zum PC, rufe zurück und öffne eine e-mail, und sehe sie vor mir: Im Anhang ein Bild der Tankstelle, exakt aus der Perspektive, wie ich sie innerlich gesehen hatte! Das Dach genauso wie gedacht, und drei Zapfsäulen auf der Mittelinsel zwischen den Säulen des Dachs. Die sind zwar dunkel und nicht silbrig, aber alles andere stimmt. Auf dem Dach über dem Laden Steht „Mini-Markt“. Ja! Das Bild das ich im Kopf hatte war keine Einbildung, das war eine echte Erinnerung. Das Foto war genau von da aufgenommen, von wo aus man von meinem Elternhaus kommend auf die Tankstelle zugegangen war.  

Rechts an der Ecke ein Mülleimer mit Langnese Logo. Ja, das Langnese Logo, das war da. Ich merke, ich erinnere, ich kann bestätigen, das war der Aral Mini-Markt. Aber erst nach diesem Bild. Es ist so umwerfend, wie die Erinnerung sich erst mit dem Foto bestätigt, von alleine das Bild aber erst gar nicht, und dann nur unvollständig kam. So unsicher, ob es keine Einbildung ist, aber nun durch das Bild nachgewiesen: Dach und Zapfsäulen standen genau so vor dem Ladengebäude.

Berliner Ring 2 in Dreieichenhain um 1973 (Foto: Archiv Familie Sander)

Nach etwa 50 Jahren sehe ich sie wieder: „Die Tanke des Jahrhunderts“. Sie ist wieder auferstanden in meiner Erinnerung, und durch das Bild das nun auch am Samstag den 30. Januar 2021 mit zwei weiteren Bildern und einem ausführlichen Bericht in der Offenbach-Post erscheint. Die Tankstelle war demnach von 1968 bis 1975 in Betrieb. 1977 wurde das Gebäude umgewidmet. Familie Müller eröffnete ihren Laden, der 2007 von Familie Pfeifer übernommen wurde. Doch ein kleines Rätsel gibt mir Herr Mahn noch mit auf dem Weg: Pfeifers haben nicht von Müllers übernommen, da gab es noch jemanden in der Zwischenzeit.

Ich frage eine weitere Bekannte, die 2004 nach Dreieichenhain zog und in dem Laden einkaufen ging. Sie erzählt mir von Frau Gerstner, die das Geschäft betrieben habe, und gab mir einen Hinweis, wie ich mit ihr in Kontakt kommen könnte. Und wieder ist das Telefon der Kanal über den sich weitere Teile dieses historischen Puzzles hinzufügen lassen. Frau Gerstner erzählt mir, dass sie das Geschäft im Dezember 2004 von Frau Müller übernommen hatte, aber ein langjähriger Kunde aus der dortigen unmittelbaren Nachbarschaft noch mehr wüsste.

Nach ein paar Monaten arbeitsbedingter Recherchepause erfahre ich von ihm, dass die Kette der Ladenbetreiber viel länger ist, vor Müllers noch ein Getränkemarkt Montwé und davor ein Obsthändler namens Guse dort ihre Waren verkauften.

Er vermittelt mir den Kontakt zu Frau Müller. Am 22. April 2021 erfahre ich durch sie aus erster Quelle, dass es vor den Müllers den Getränkemarkt von Herrn Montwé gab, der nur Getränke verkaufte. Dort war Herr Müller angestellt.  Später wechselte Herr Montwé mit seinem Getränkemarkt in die Hainer Chaussee und Herr Müller übernahm die Lokation im Odenwaldring. Auf Anregung aus der Kundschaft öffnete Herr Müller einen „Tante Emma“ Laden in dem Gebäude, später kam seine Frau hinzu. Und sie erzählt von spannenden Geschichten, die es mit und zwischen der Kundschaft gegeben habe. Der kleine Laden war ein Treffpunkt von Nachbarn, die sich sonst teilweise gar nicht kannten und so erst miteinander in Kontakt gekommen waren.

Was für eine Geschichte!

Odenwaldring 2 in Dreieich-Dreieichenhain 2021 (Foto: Stephan Heinsius)

"Zeitfenster" am Odenwaldring 2 in Dreieich-Dreieichenhain (Fotos: Stephan Heinsius und Archiv Familie Sander)

Danke an alle die mit Informationen und Bildern diese Dokumentation unterstützt der Veröffentlichung zugestimmt haben.

Nachtrag vom 14.07.2021: Nachdem ich einen Link auf diesen Artikel in den drei Facebook-Gruppen „Unser Dreieich“, „Wir in Dreieich“ und „Du bist aus Dreieichenhain wenn Du..…“ gepostet hatte, gab es noch einige Informationen aus Rückmeldungen von dort. Daraus ergibt sich, dass der Getränkemarkt von Herrn Montwé die Marke „Profi Getränkemarkt“ trug, und dass der Getränkemarkt nach 1977, vielleicht 1978 eröffnet wurde. Frau Müller hatte in der Zwischenzeit auch noch einmal im Bekannten- bzw. Kreis ehemaliger Kunden und mit Herrn Montwé gesprochen. Sie erzählte mir am Telefon, dass die Eröffnung ihres „Einkaufspavillons“ am 16.12.1985 stattfand, und Herr Müller ca. zwei Jahre zuvor die Leitung des Getränkemarkts übernommen hatte.

Stephan Heinsius, 31.01.2021/01.02.2021/22.04.2021/08.07.2021/14.07.2021